Gleisdreieck
Gleisdreieck
VĂ 03.03.2017
ErhÀltlich als CD / Deluxe Edition / Vinyl / Digital
News
TV Auftritte
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11.09.2017 +22:20 // arte ARTE Concerts
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24.08.2017 +00:00 // ARD Hessentag 2017 mit hr-Bigband
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31.07.2017 +21:00 // WDR Rockpalast: Summerjam 2017
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19.05.2017 +19:00 // 3sat Bayerischer Fernsehpreis 2017
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13.05.2017 +20:15 // ARD Eurovision Song Contest
Biografie
Joy Denalane hat deutschen Soul erfunden und damit deutschen Pop geprĂ€gt. Sie hat mit Freundeskreis und Max Herre gearbeitet und ihre ganz eigene Stimme gefunden. Viele ihrer Songs sind fĂŒr die Ewigkeit. Mit ihrem ersten neuen Album seit sechs Jahren macht sie sich auf die Suche nach ihrer IdentitĂ€t â und zeichnet dabei fast beilĂ€ufig ein Bild ihrer Heimatstadt Berlin im Hier und Jetzt.
Das Berliner Gleisdreieck ist ein seltsamer Fleck in einer sich stĂ€ndig Ă€ndernden Stadt. Ein ewiger Nicht-Ort zwischen Ost und West, mitten in Berlin und gleichzeitig am Rande der Stadt, morbides Brachland zwischen disparaten Welten, voll von Schutt und Schotter und Schatten, auch wenn die groĂe Mauer, die ihn einst vom Potsdamer Platz hinĂŒberwarf, schon lange nicht mehr steht.
FĂŒr Joy Denalane ist dieser Ort dennoch voller Bedeutung. Hier ist sie aufgewachsen, in der KurfĂŒrstenstraĂe, die derzeit die ganze Wucht der VerĂ€nderung zu spĂŒren bekommt, ihre dĂŒstere Vergangenheit aber nur leidlich verbirgt. Hier hat Joy zwischen stillgelegten Bahngleisen gespielt, stets im Gefolge ihrer beiden groĂen BrĂŒder, die ihr erst Schöneberg und spĂ€ter HipHop gezeigt haben. Hier ist sie geworden, wer sie heute ist: eine von Deutschlands ausdrucksstĂ€rksten, einflussreichsten und mithin besten SĂ€ngerinnen der letzten 20 Jahre.
Noch mal kurz zur Erinnerung: 1999 nahm Joy Denalane mit Max Herre das Duett âMit dirâ auf. Es erschien auf dem zweiten Album der Gruppe Freundeskreis, âEsperantoâ, und war sehr, sehr erfolgreich. Der Rest ist, wie es ein bisschen zu hĂ€ufig, in Denalanes Fall aber völlig zurecht heiĂt, Geschichte. Als Teil der FK Allstars half sie mit, das Land der âLiedermacherâ nachhaltig zu entkrampfen und deutschsprachigem HipHop und Pop den Weg in jene SelbstverstĂ€ndlichkeit zu ebnen, in der er heute prosperiert. 2002 erschien ihr DebĂŒt âMamaniâ, die erste ernstzunehmende Soul-Platte in deutscher Sprache. Es folgten: Zwei weitere Top-10-Alben, âBorn & Raisedâ und âMaureenâ. Auftritte in den USA, Frankreich, SĂŒdafrika, Japan, England. Kollabos mit unter anderem Common, Bilal, Tweet, Raekwon, Lupe Fiasco, Afrob, SĂ©kou, Gentleman, Megaloh, Chefket, Max Herre und dem MDR-Sinfonieorchester.
Joy Denalane ist durch und durch Musikerin. Ihre Welt ist Klang, Gesang ist ihre Art, Gedanken zu ordnen und GefĂŒhle zu kanalisieren. Auch deswegen hat sie in all den Jahren nie aufgehört, Musik zu schreiben, aufzunehmen und Shows zu spielen. Zuletzt arbeitete sie in New York gemeinsam mit Sway Clarke und ihrem langjĂ€hrigen WeggefĂ€hrten SĂ©kou Neblett an einem Album im Stil von Ike & Tina Turner. âAber das warâs einfach nicht. Also bin ich in mich gegangen und habe mich gefragt: Was sind die Gedanken, die mich gerade wirklich umtreiben? Was habe ich zu sagen? Wer bin ich eigentlich?â Diese Fragen fĂŒhrten sie zurĂŒck nach Berlin. ZurĂŒck ans Gleisdreieck, das sich plötzlich auch als Symbol lesen lieĂ: eine Gabelung ins Ungewisse, in die Vergangenheit und die Zukunft.
Wenn in âGleisdreieckâ â der Platte, die nun am Ende dieser âlangen Reiseâ steht â ĂŒberhaupt eine Gewissheit steckt, dann jene, dass es im Leben keine Gewissheit gibt. Dass ein winziger Moment Jahrzehnte alte Ăberzeugungen spalten und sĂ€uberlich austarierte Konstellationen aus der Balance bringen kann. Dass wir alle verwundbar sind, egal was wir erlebt, getan, erreicht haben. âIch bin ein tough cookieâ, sagt Joy Denalane. âIch bin in dem Bewusstsein groĂ geworden, dass ich etwas durchsetzen kann, wenn ich es wirklich will. Dabei habe ich mich immer als unverwundbar empfunden. Ab durch die Mitte, komme was wolle, ich machâs klar. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich jederzeit aus diesem Leben gerissen werden könnte. Das GefĂŒhl der Unverwundbarkeit ist verloren gegangen, und das hört man auf diesem Album. Das mag traurig klingen, aber letztlich ist es vor allem eine Erkenntnis. Die Scheuklappen sind weg.â
Auf dieser Erkenntnis grĂŒnden die Songs auf âGleisdreieckâ. Einige von ihnen berĂŒhren persönliche Erfahrungen: Tod, Trennung, NeuanfĂ€nge, das Muttersein. Andere kommen eher aus der Perspektive einer Beobachterin, die vier Jahrzehnte Berlin und eine entsprechende Menge Irrsinn hat vorbeiziehen sehen. Wieder andere sind Hybride aus Erlebtem und Aufgeschnapptem. Allen gemein aber ist eine lyrische Klarheit, wie sie nicht unbedingt typisch ist fĂŒr die Klangfanatikerin und InstinktsĂ€ngerin Joy Denalane. Diese Klarheit wirkt manchmal mondĂ€n und gelassen, manchmal fragil und fantastisch. Immer ist sie: direkt und ehrlich. Es ist keine Kulisse mehr zwischen Joy Maureen Denalane aus Kreuzberg 61 und Deutschlands Soul-Diva No. 1, keine Schnörkel und Kapriolen in der Stimme, die notfalls als Auffangnetz herhalten könnten. âIch habe die Songs diesmal nicht so ausgesungen, bewusst nicht das gesamte SĂ€ngerspektrum ausgepackt. Mir waren andere Dinge wichtiger: ein Wort zu transportieren, eine Geschichte zu erzĂ€hlen und vor allem ein GefĂŒhl zu vermitteln.â
Das Album beginnt mit einem geisterhaften Gedicht und einem Sonnenstrahl im Fensterspalt. âDie beste Zeit ist morgens, blaue Stundeâ, singt Joy Denalane. Es ist ein Liebeslied an die naive Hoffnung, die jeder neue Tag mit sich bringt. VerzĂŒckter, heller Cloud-R&B ganz ohne Wolken. âIch kann den Himmel berĂŒhren, die Weichen verstellenâ â diese Zuversicht trĂ€gt âGleisdreieckâ auch in seinen finsteren Momenten. Die alltĂ€gliche, sehr menschliche Superkraft, das Phobische der GroĂstadt beharrlich beiseite zu schieben und den Blick auf das Wesentliche frei zu machen. Leben, das heiĂt eben auch, weiter an das Hehre zu glauben, wenn einen jeder Tag auf den Boden der RealitĂ€t zurĂŒckholt.
In dieser RealitĂ€t behandelt Joy Denalane Beziehungen, die quĂ€lend langsam zerbrechen (âHologrammâ), und solche, die gegen jede Vernunft beginnen (âZwischen den Zeilenâ). Sie beschreibt NĂ€chte voller Gedanken (âSchlaflosâ) und NĂ€chte voller Eitelkeiten, wenn sich die berufsmĂ€Ăigen VIPs und GĂ€stelistenjĂ€ger ĂŒber den DĂ€chern der Metropole zum Wichtigtun treffen und nach Mitternacht den Ehering in die Hosentasche rutschen lassen (âSo sieht man sich wiederâ). Joy stellt sich nicht ĂŒber diese vermeintlich ehrenlose Gesellschaft. Sie moralisiert nicht sondern erkennt Muster des Menschlichen. âUnd ich wĂ€râ gern weniger wie ihrâ, heiĂt es am Ende des Songs.
In âStadtâ schlieĂlich wechselt sie die Perspektive und erzĂ€hlt aus der Sicht ihrer Heimat, die in TrĂŒmmern lag und auf BlĂŒten, mal nichts war und mal obenauf. Der Ton ist mehr modern-day Brecht als BeyoncĂ©, getrĂ€nkt mit Lakonie und feinem Spott, aber auch mit WĂ€rme und Sympathie fĂŒr all die Menschen, die hier ihr GlĂŒck versucht haben: âIhr meint, ihr könntet mich besitzen / Ihr werdet sehen, dass ihr euch tĂ€uscht / Denn ich nehm Besitz von euch / Und ich geb dir meine Schulter, wenn du dich an sie lehnst / Hab immer einen neuen Morgen fĂŒr dich / Doch ich fange dich nicht auf, wenn du fĂ€llst / Wenn du fĂ€llst, fĂ€llt das auch nicht ins Gewicht.â So ist es, und so ist es immer gewesen â soll nur ja keiner der zuletzt Zugezogenen glauben, er wĂ€re auch nur ansatzweise so besonders wie diese Stadt selbst.
Das emotionale GerĂŒst des Albums aber bilden die dezidiert autobiografischen StĂŒcke. Gemeinsam mit ihren Songwriter-Kollegen Maxim, Tua, Jasmin Shakeri, Alex Freund, Ali Zuckowski, David JĂŒrgens, Martin Fliegenschmidt und Max Herre hat Joy Denalane fĂŒr âGleisdreieckâ einige der prĂ€gendsten Erlebnisse ihrer jĂŒngeren Vergangenheit aufgearbeitet. So singt sie unter anderem ĂŒber den Tod ihrer Mutter, ihre Beziehung zur auĂerehelichen Tochter ihres Mannes Max Herre, Begegnungen mit dem neuen Alltagsrassismus, oder das GefĂŒhl, den eigenen Sohn aus den Armen zu lassen, obwohl man doch gefĂŒhlt selbst gerade noch der trotzige Teenager war, der partout nicht einsehen wollte, warum man pĂŒnktlich aus dem âDschungelâ oder dem âRiverboatâ heimkommen sollte. Namen und andere Details spart Denalane dabei aus. Sie spielten auch keine Rolle. Man spĂŒrt trotzdem, dass da etwas ist: Ein Vorfall, eine Person, ein sehr reales GefĂŒhl.
âDiese Platte ist auch deswegen so ehrlich, weil sie geprĂ€gt ist vom Austausch mit Freunden und Kollegen, die mir ganz unbefangen Fragen gestellt haben, auch unbequeme. Ăber meine GefĂŒhle, Ăberzeugungen, mein Leben. Ich bin eigentlich ein Typ, der sein vertrautes Umfeld braucht, mein Camp. Raus zu gehen und mit Leuten, die ich bis dahin nicht so gut bis ĂŒberhaupt nicht kannte, ĂŒber Dinge zu reden, die ans Eingemachte gehen, war neu fĂŒr mich. Mir ging es auch nicht immer so gut damit. Wenn du ĂŒber deine Verletzungen sprichst, findest du sie wieder. Aber im Resultat hat es der Platte gut getan â und es hat auch mir gut getan.â
Das zeigt sich nicht nur im Inhaltlichen, sondern auch in der Musik selbst. Der klassische Joy-Sound, mit seinen Wurzeln im Gospel, Afrobeat und 70s-Soul, wird auf âGleisdreieckâ ergĂ€nzt und stellenweise ersetzt von einem kristallinen Future R&B und entwaffnend elegantem GroĂstadtpop. Die Produktion von KAHEDI (alias Samon Kawamura, Max Herre und Roberto Di Gioia), Tua, Alex Freund und Ben Bazzazian ist unbedingt im Moment und schwebt doch ĂŒber den Trends und Trendchen, die einem Woche fĂŒr Woche in den Feed schwappen. Es sind Nuancen â der Hall auf einer Bassline, eine leicht manipulierte Stimme, die Ahnung eines Drops. Doch sie geben den Songs ihre Dringlichkeit, machen aus klassischer Schönheit echte Hits fĂŒrs Heute. Immer wieder tauchen auf dem Album auch Rap-Strophen auf, wie flĂŒchtige Begegnungen in einer ĂŒberfĂŒllten Nacht. Der junge Berliner Chima Ede ist ebenso zu hören wie Deutschlands kommender Trap-King Rin, die talentierte Hamburgerin Eunique, Tua, Megaloh, Ahzumjot, Marteria. Sie alle ergĂ€nzen Joys Geschichte/n mit ihren persönlichen Perspektiven und verorten sie noch klarer im Hier und Jetzt.
All das kommt schlieĂlich zusammen auf dem finalen StĂŒck des Albums, âZuhauseâ. Musik ist nur ganz wenig: eine akustische Gitarre, eine simple, beinahe kindliche Melodie. Joy spricht darin mit ihrer 2001 verstorbenen Mutter, deren Rat sie stets gesucht hat und die ihr nach wie vor eine Art Kompass ist auf dem Weg durch das, was man frĂŒher etwas leichtfertig Erwachsenenleben nannte. Auf dem Weg zu einer Studiosession ist sie zwei Ă€lteren Frauen begegnet, die in vollem Bewusstsein ihrer Anwesenheit ĂŒber âdiese FlĂŒchtlingeâ herzogen: Ein endloser Strom aus Vorurteilen, Fehlinformation, Angst und Missgunst. Sie geht durch die StraĂen, die auch ihre sind, und fĂŒhlt sich urplötzlich fremd. âWo ist mein Zuhause?â Sie weiĂ es tatsĂ€chlich nicht in diesem Moment. Also fragt sie ihre Mutter.
âKomm nach Hauseâ, sagt die Geistergedichtstimme vom Beginn des Albums, so wie frĂŒher die Mutter rief, wenn Joy zwischen den Bahngleisen spielte und es langsam spĂ€t wurde. âDas ist dein Zuhauseâ, sagt nun die Mutter. Genau hier bist du richtig. Ich verspreche es dir. Hier am Gleisdreieck. Hier in Berlin. Hier in Deutschland und ĂŒberall sonst, wo du gerne sein möchtest.
Davide Bortot, 2016
Das Berliner Gleisdreieck ist ein seltsamer Fleck in einer sich stĂ€ndig Ă€ndernden Stadt. Ein ewiger Nicht-Ort zwischen Ost und West, mitten in Berlin und gleichzeitig am Rande der Stadt, morbides Brachland zwischen disparaten Welten, voll von Schutt und Schotter und Schatten, auch wenn die groĂe Mauer, die ihn einst vom Potsdamer Platz hinĂŒberwarf, schon lange nicht mehr steht.
FĂŒr Joy Denalane ist dieser Ort dennoch voller Bedeutung. Hier ist sie aufgewachsen, in der KurfĂŒrstenstraĂe, die derzeit die ganze Wucht der VerĂ€nderung zu spĂŒren bekommt, ihre dĂŒstere Vergangenheit aber nur leidlich verbirgt. Hier hat Joy zwischen stillgelegten Bahngleisen gespielt, stets im Gefolge ihrer beiden groĂen BrĂŒder, die ihr erst Schöneberg und spĂ€ter HipHop gezeigt haben. Hier ist sie geworden, wer sie heute ist: eine von Deutschlands ausdrucksstĂ€rksten, einflussreichsten und mithin besten SĂ€ngerinnen der letzten 20 Jahre.
Noch mal kurz zur Erinnerung: 1999 nahm Joy Denalane mit Max Herre das Duett âMit dirâ auf. Es erschien auf dem zweiten Album der Gruppe Freundeskreis, âEsperantoâ, und war sehr, sehr erfolgreich. Der Rest ist, wie es ein bisschen zu hĂ€ufig, in Denalanes Fall aber völlig zurecht heiĂt, Geschichte. Als Teil der FK Allstars half sie mit, das Land der âLiedermacherâ nachhaltig zu entkrampfen und deutschsprachigem HipHop und Pop den Weg in jene SelbstverstĂ€ndlichkeit zu ebnen, in der er heute prosperiert. 2002 erschien ihr DebĂŒt âMamaniâ, die erste ernstzunehmende Soul-Platte in deutscher Sprache. Es folgten: Zwei weitere Top-10-Alben, âBorn & Raisedâ und âMaureenâ. Auftritte in den USA, Frankreich, SĂŒdafrika, Japan, England. Kollabos mit unter anderem Common, Bilal, Tweet, Raekwon, Lupe Fiasco, Afrob, SĂ©kou, Gentleman, Megaloh, Chefket, Max Herre und dem MDR-Sinfonieorchester.
Joy Denalane ist durch und durch Musikerin. Ihre Welt ist Klang, Gesang ist ihre Art, Gedanken zu ordnen und GefĂŒhle zu kanalisieren. Auch deswegen hat sie in all den Jahren nie aufgehört, Musik zu schreiben, aufzunehmen und Shows zu spielen. Zuletzt arbeitete sie in New York gemeinsam mit Sway Clarke und ihrem langjĂ€hrigen WeggefĂ€hrten SĂ©kou Neblett an einem Album im Stil von Ike & Tina Turner. âAber das warâs einfach nicht. Also bin ich in mich gegangen und habe mich gefragt: Was sind die Gedanken, die mich gerade wirklich umtreiben? Was habe ich zu sagen? Wer bin ich eigentlich?â Diese Fragen fĂŒhrten sie zurĂŒck nach Berlin. ZurĂŒck ans Gleisdreieck, das sich plötzlich auch als Symbol lesen lieĂ: eine Gabelung ins Ungewisse, in die Vergangenheit und die Zukunft.
Wenn in âGleisdreieckâ â der Platte, die nun am Ende dieser âlangen Reiseâ steht â ĂŒberhaupt eine Gewissheit steckt, dann jene, dass es im Leben keine Gewissheit gibt. Dass ein winziger Moment Jahrzehnte alte Ăberzeugungen spalten und sĂ€uberlich austarierte Konstellationen aus der Balance bringen kann. Dass wir alle verwundbar sind, egal was wir erlebt, getan, erreicht haben. âIch bin ein tough cookieâ, sagt Joy Denalane. âIch bin in dem Bewusstsein groĂ geworden, dass ich etwas durchsetzen kann, wenn ich es wirklich will. Dabei habe ich mich immer als unverwundbar empfunden. Ab durch die Mitte, komme was wolle, ich machâs klar. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich jederzeit aus diesem Leben gerissen werden könnte. Das GefĂŒhl der Unverwundbarkeit ist verloren gegangen, und das hört man auf diesem Album. Das mag traurig klingen, aber letztlich ist es vor allem eine Erkenntnis. Die Scheuklappen sind weg.â
Auf dieser Erkenntnis grĂŒnden die Songs auf âGleisdreieckâ. Einige von ihnen berĂŒhren persönliche Erfahrungen: Tod, Trennung, NeuanfĂ€nge, das Muttersein. Andere kommen eher aus der Perspektive einer Beobachterin, die vier Jahrzehnte Berlin und eine entsprechende Menge Irrsinn hat vorbeiziehen sehen. Wieder andere sind Hybride aus Erlebtem und Aufgeschnapptem. Allen gemein aber ist eine lyrische Klarheit, wie sie nicht unbedingt typisch ist fĂŒr die Klangfanatikerin und InstinktsĂ€ngerin Joy Denalane. Diese Klarheit wirkt manchmal mondĂ€n und gelassen, manchmal fragil und fantastisch. Immer ist sie: direkt und ehrlich. Es ist keine Kulisse mehr zwischen Joy Maureen Denalane aus Kreuzberg 61 und Deutschlands Soul-Diva No. 1, keine Schnörkel und Kapriolen in der Stimme, die notfalls als Auffangnetz herhalten könnten. âIch habe die Songs diesmal nicht so ausgesungen, bewusst nicht das gesamte SĂ€ngerspektrum ausgepackt. Mir waren andere Dinge wichtiger: ein Wort zu transportieren, eine Geschichte zu erzĂ€hlen und vor allem ein GefĂŒhl zu vermitteln.â
Das Album beginnt mit einem geisterhaften Gedicht und einem Sonnenstrahl im Fensterspalt. âDie beste Zeit ist morgens, blaue Stundeâ, singt Joy Denalane. Es ist ein Liebeslied an die naive Hoffnung, die jeder neue Tag mit sich bringt. VerzĂŒckter, heller Cloud-R&B ganz ohne Wolken. âIch kann den Himmel berĂŒhren, die Weichen verstellenâ â diese Zuversicht trĂ€gt âGleisdreieckâ auch in seinen finsteren Momenten. Die alltĂ€gliche, sehr menschliche Superkraft, das Phobische der GroĂstadt beharrlich beiseite zu schieben und den Blick auf das Wesentliche frei zu machen. Leben, das heiĂt eben auch, weiter an das Hehre zu glauben, wenn einen jeder Tag auf den Boden der RealitĂ€t zurĂŒckholt.
In dieser RealitĂ€t behandelt Joy Denalane Beziehungen, die quĂ€lend langsam zerbrechen (âHologrammâ), und solche, die gegen jede Vernunft beginnen (âZwischen den Zeilenâ). Sie beschreibt NĂ€chte voller Gedanken (âSchlaflosâ) und NĂ€chte voller Eitelkeiten, wenn sich die berufsmĂ€Ăigen VIPs und GĂ€stelistenjĂ€ger ĂŒber den DĂ€chern der Metropole zum Wichtigtun treffen und nach Mitternacht den Ehering in die Hosentasche rutschen lassen (âSo sieht man sich wiederâ). Joy stellt sich nicht ĂŒber diese vermeintlich ehrenlose Gesellschaft. Sie moralisiert nicht sondern erkennt Muster des Menschlichen. âUnd ich wĂ€râ gern weniger wie ihrâ, heiĂt es am Ende des Songs.
In âStadtâ schlieĂlich wechselt sie die Perspektive und erzĂ€hlt aus der Sicht ihrer Heimat, die in TrĂŒmmern lag und auf BlĂŒten, mal nichts war und mal obenauf. Der Ton ist mehr modern-day Brecht als BeyoncĂ©, getrĂ€nkt mit Lakonie und feinem Spott, aber auch mit WĂ€rme und Sympathie fĂŒr all die Menschen, die hier ihr GlĂŒck versucht haben: âIhr meint, ihr könntet mich besitzen / Ihr werdet sehen, dass ihr euch tĂ€uscht / Denn ich nehm Besitz von euch / Und ich geb dir meine Schulter, wenn du dich an sie lehnst / Hab immer einen neuen Morgen fĂŒr dich / Doch ich fange dich nicht auf, wenn du fĂ€llst / Wenn du fĂ€llst, fĂ€llt das auch nicht ins Gewicht.â So ist es, und so ist es immer gewesen â soll nur ja keiner der zuletzt Zugezogenen glauben, er wĂ€re auch nur ansatzweise so besonders wie diese Stadt selbst.
Das emotionale GerĂŒst des Albums aber bilden die dezidiert autobiografischen StĂŒcke. Gemeinsam mit ihren Songwriter-Kollegen Maxim, Tua, Jasmin Shakeri, Alex Freund, Ali Zuckowski, David JĂŒrgens, Martin Fliegenschmidt und Max Herre hat Joy Denalane fĂŒr âGleisdreieckâ einige der prĂ€gendsten Erlebnisse ihrer jĂŒngeren Vergangenheit aufgearbeitet. So singt sie unter anderem ĂŒber den Tod ihrer Mutter, ihre Beziehung zur auĂerehelichen Tochter ihres Mannes Max Herre, Begegnungen mit dem neuen Alltagsrassismus, oder das GefĂŒhl, den eigenen Sohn aus den Armen zu lassen, obwohl man doch gefĂŒhlt selbst gerade noch der trotzige Teenager war, der partout nicht einsehen wollte, warum man pĂŒnktlich aus dem âDschungelâ oder dem âRiverboatâ heimkommen sollte. Namen und andere Details spart Denalane dabei aus. Sie spielten auch keine Rolle. Man spĂŒrt trotzdem, dass da etwas ist: Ein Vorfall, eine Person, ein sehr reales GefĂŒhl.
âDiese Platte ist auch deswegen so ehrlich, weil sie geprĂ€gt ist vom Austausch mit Freunden und Kollegen, die mir ganz unbefangen Fragen gestellt haben, auch unbequeme. Ăber meine GefĂŒhle, Ăberzeugungen, mein Leben. Ich bin eigentlich ein Typ, der sein vertrautes Umfeld braucht, mein Camp. Raus zu gehen und mit Leuten, die ich bis dahin nicht so gut bis ĂŒberhaupt nicht kannte, ĂŒber Dinge zu reden, die ans Eingemachte gehen, war neu fĂŒr mich. Mir ging es auch nicht immer so gut damit. Wenn du ĂŒber deine Verletzungen sprichst, findest du sie wieder. Aber im Resultat hat es der Platte gut getan â und es hat auch mir gut getan.â
Das zeigt sich nicht nur im Inhaltlichen, sondern auch in der Musik selbst. Der klassische Joy-Sound, mit seinen Wurzeln im Gospel, Afrobeat und 70s-Soul, wird auf âGleisdreieckâ ergĂ€nzt und stellenweise ersetzt von einem kristallinen Future R&B und entwaffnend elegantem GroĂstadtpop. Die Produktion von KAHEDI (alias Samon Kawamura, Max Herre und Roberto Di Gioia), Tua, Alex Freund und Ben Bazzazian ist unbedingt im Moment und schwebt doch ĂŒber den Trends und Trendchen, die einem Woche fĂŒr Woche in den Feed schwappen. Es sind Nuancen â der Hall auf einer Bassline, eine leicht manipulierte Stimme, die Ahnung eines Drops. Doch sie geben den Songs ihre Dringlichkeit, machen aus klassischer Schönheit echte Hits fĂŒrs Heute. Immer wieder tauchen auf dem Album auch Rap-Strophen auf, wie flĂŒchtige Begegnungen in einer ĂŒberfĂŒllten Nacht. Der junge Berliner Chima Ede ist ebenso zu hören wie Deutschlands kommender Trap-King Rin, die talentierte Hamburgerin Eunique, Tua, Megaloh, Ahzumjot, Marteria. Sie alle ergĂ€nzen Joys Geschichte/n mit ihren persönlichen Perspektiven und verorten sie noch klarer im Hier und Jetzt.
All das kommt schlieĂlich zusammen auf dem finalen StĂŒck des Albums, âZuhauseâ. Musik ist nur ganz wenig: eine akustische Gitarre, eine simple, beinahe kindliche Melodie. Joy spricht darin mit ihrer 2001 verstorbenen Mutter, deren Rat sie stets gesucht hat und die ihr nach wie vor eine Art Kompass ist auf dem Weg durch das, was man frĂŒher etwas leichtfertig Erwachsenenleben nannte. Auf dem Weg zu einer Studiosession ist sie zwei Ă€lteren Frauen begegnet, die in vollem Bewusstsein ihrer Anwesenheit ĂŒber âdiese FlĂŒchtlingeâ herzogen: Ein endloser Strom aus Vorurteilen, Fehlinformation, Angst und Missgunst. Sie geht durch die StraĂen, die auch ihre sind, und fĂŒhlt sich urplötzlich fremd. âWo ist mein Zuhause?â Sie weiĂ es tatsĂ€chlich nicht in diesem Moment. Also fragt sie ihre Mutter.
âKomm nach Hauseâ, sagt die Geistergedichtstimme vom Beginn des Albums, so wie frĂŒher die Mutter rief, wenn Joy zwischen den Bahngleisen spielte und es langsam spĂ€t wurde. âDas ist dein Zuhauseâ, sagt nun die Mutter. Genau hier bist du richtig. Ich verspreche es dir. Hier am Gleisdreieck. Hier in Berlin. Hier in Deutschland und ĂŒberall sonst, wo du gerne sein möchtest.
Davide Bortot, 2016